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„Das Zusammenführen von Geweben in einer Schnittwunde“

© IONOMO GmbH_Value One
Die Büro- und Hotelhochhäuser „Weitblick“ und „Grünblick“ sind Teil des Stadtquartiers Viertel Zwei, wo bis 2024 890 Wohnungen, 170.000 m² Büroflächen, 350 Studentenapartments sowie Hotels entstehen.
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Begreift man Stadtplanung als die Strategie und Städtebau als die Taktik, so wird klar: Es geht um die Möglichkeit, über das einzelne Gebäude hinaus Wirkung zu erzielen.

von: Rudolf Preyer

Zuerst fragt die Stadtplanung nach den menschlichen Bedürfnissen, und dann gestaltet der Städtebau unser Nahumfeld konkret aus. Dies sei vorausgeschickt, zumal ja auch Experten oftmals bei der Begriffsklärung ins Rutschen kommen – sintemal das Vordenken und Ausführen sowie das Weiterdenken und -ausführen einander bedingen; und eben auch: einander wechselseitig hochschaukeln. Schaut man sich die zuletzt viel besprochenen heimischen Projekte an, lässt sich anschaulich das Wechselspiel zwischen High Concept und raffinierter Ausführung herausarbeiten.
Johannes Zeininger ist Mitglied des Ausschusses Städtebau der arch+ing und steht dem Büro zeininger architekten vor. Er schickt voraus: „Wiens Weg zur nachhaltigen Metropolregion entscheidet sich vor allem an der Schnittstelle zu seinem Umland. Eine der großen anstehenden Aufgaben ist es, weg vom Urban Sprawl (landschaftsverbrauchende Zersiedlung des Stadt-Umland-Bereichs, Anm.) hin zu einer stadträumlichen Siedlungsagglomeration entlang eines nachhaltigen Verkehrsnetzes mit tief bis in die Zentralstadt entwickelten Freiräumen für Natur, Erholung und Nahrungsmittelproduktion zu kommen.“ Die großen Wiener städtebaulichen Projekte und deren qualitativer Beitrag müssen in diesem Gesamtkontext betrachtet werden.

Viertel Zwei Plus
Ein spannendes Entwicklungsgebiet ist das Areal rund um die Messe und den Wiener Prater sowie rund um die WU Wien. Neben den dort ebenso ansässigen großen Bürobauten entstehen hier Wohnangebote mit einem Fokus auf Studenten (daher auch Studentenwohnungen und Kurzfristwohnen) und Mitarbeiter der angesiedelten Unternehmenszentralen, darunter z. B. die Erweiterung des Stadtquartiers Viertel Zwei. Bis 2024 sollen dort etwa 890 Wohnungen, 170.000 m² Büroflächen, 350 Apartments für Studierende sowie Hotel- und gewerb­liche Nutzung entstehen. Teile davon wurden bereits umgesetzt.
Für den Bereich nördlich der denkmalgeschützten Stallungen wurde im Jahr 2016 seitens der IC Projektentwicklung GmbH ein geladener, einstufiger, anonymer Realisierungswettbewerb durchgeführt. Die Nutzungsschwerpunkte waren Wohnen und ein multifunktionales Gebäude. Das Sieger­projekt stammt von Martin Kohlbauer und befindet sich derzeit in Bau.

Neues Stadtquartier an der U2
Viel umstritten: Die denkmalgeschützten Stallungen werden erhalten bleiben. Dazu gibt es bereits ein Nutzungskonzept, das zu einer weiteren Belebung des Viertels führen soll. Eine an der Trabrennstraße beginnende Fußgängerachse wird bis zur Meierei­straße verlängert und bildet die Basis des Quartiers – mehrere Plätze und Buchten sind Teil dieser Promenade. Im Bereich zwischen den denkmalgeschützten Stallungen und den Hochhäusern soll ein „grüner Platz“ entstehen. Eine zweite Promenade entlang der Trabrennbahn soll verschiedene Freiräume verbinden.
Der Standort östlich der Stallungen im Nahbereich der U2-Station Stadion wurde in der Evaluierung des Leitbilds 2014 als Hochhausstandort bestätigt. In diesem Sinne wurde im Jahr 2017 ein einstufiger, anonymer Realisierungswettbewerb durchgeführt. Das italienische Architekturbüro Mario Cucinella Architects ging dabei mit dem ca. 120 Meter hohen Büro- und Hotelhochhaus „Weitblick“ und dem ca. 90 Meter hohen Wohnhochhaus „Grünblick“ als Sieger hervor. Der Flächenwidmungs- und Bebauungsplan wurde im September 2021 vom Gemeinderat beschlossen.

Nordbahnviertel
Wie geht sich das aus: Wien wächst, braucht leistbare Wohnungen und im Nordbahnviertel wird eine „Gstetten“ bewahrt? Sebastian Beiglböck, Geschäftsführer der Vereinigung Österreichischer Projektentwickler der Immobilienbranche (VÖPE), skizziert den Weg, der bis hierher eingeschlagen werden musste: „Wir haben in den letzten ca. 20 Jahren die größte Stadt­erweiterung seit dem Schleifen der Stadtmauern erlebt. Die zahlreichen großen Stadtentwicklungsgebiete zeichnen heute ein hoher städtebaulicher Anspruch, hohe Lebensqualität und gute Durchmischung aus.“ Das sei nicht immer so gewesen, man müsse nur die ersten eher nüchternen Bauphasen am Nordbahnhofgelände – an der Lasallestraße – mit dem vergleichen, was jetzt gerade an der sogenannten „Freien Mitte“ geschaffen werde. Die städtebauliche Qualität sei immer höher geworden, vor allem durch mehr Kooperativen und Wettbewerbe, meint Beiglböck.
Neben den bereits bebauten Gebieten rund um den Rudolf-Bednar-Park, dem Austria Campus und der Wohnallee mit Bildungscampus wird das letzte Entwicklungsgebiet „Freie Mitte – Vielseitiger Rand“ mit 5000 Wohnungen sowie 2500 Arbeitsplätzen bis 2026 realisiert. Dieser Bereich ist 32 Hektar groß und liegt zwischen Nordbahnstraße beziehungsweise Dresdner Straße, Innstraße, Vorgartenstraße, Taborstraße, Bruno-Marek-Allee und Am Tabor. Durch Konzentration der vielfältigen Bebauung am Rand kann in der Mitte des Areals ein zehn Hektar großer Grün- und Freiraum geschaffen werden. Stellenweise wird eine naturnahe Gestaltung Lebensraum für verschiedene Tier- und Pflanzenarten schaffen. An anderen Stellen entstehen Spiel- und Sportplätze. Die MA 42 Wiener Stadtgärten wurde in Planungsleistungen für diesen „Park der besonderen Art“ miteinbezogen.

Auf dem Weg zum Central Park
Gehen wir beim Nordbahnviertel gedanklich einen Schritt zurück: 2012 wurde ein EU-weiter, städtebaulicher Ideenwettbewerb durchgeführt. Auf Basis des Siegerprojekts von StudioVlay, AgenceTer und Verkehrsplanung Käfer startete im Mai 2013 der Prozess zum städtebaulichen Leitbild. Diese Entwicklung wurde von einem Bürger­beteiligungsprozess begleitet. Konzeptionell wird hier, im Nordbahnviertel, versucht, den besonderen Genius loci, die Geschichtlichkeit des Ortes sowie Naturschutzinteressen bestmöglich in Einklang zu bringen. Kurzum: Mit der Entwicklung des Nordwestbahnhofgeländes eröffnen sich gewaltige Chancen, eine „Barriere“ im 20. Bezirk wird damit beseitigt und gleichzeitig drängt sich eine starke Integration mit der dort eher vernachlässigten gründerzeit­lichen Bestandsstadt auf.

Städtebauliche Zukunftsthemen
Worauf müssen wir uns einstellen? Was dürfen wir erwarten? Dazu Beiglböck: „Was in den nächsten Jahren das größte Thema werden wird – und das wird noch viel zu wenig thematisiert –, ist die EU-Taxonomie.“ Die neuen Regeln für mehr Nachhaltigkeit in der Projektfinanzierung werden einen Paradigmenwechsel einleiten, so ist der VÖPE-Geschäftsführer überzeugt. Umweltfreundliche Projektentwicklung, die gewis­se soziale Aspekte berücksichtige, werde dann Standard. Von besonderer Bedeutung für die Stadtentwicklung sei der Bodenschutz, so Beiglböck: „In absehbarer Zeit werden wir möglicherweise keine großen Projekte mehr auf der grünen Wiese finanziert bekommen. Untergenutzte, bereits versiegelte Brachflächen im urbanen Raum sowie die Verdichtung der Bestandsstadt werden zentrale Bedeutung bekommen.“ Darauf müsse man sich bereits heute vorbereiten.
Außerdem fehlen bei der Bestandsentwicklung „noch Instrumente, wie wir schnell ins Tun kommen können“, kritisiert Beiglböck, „wir werden bei Projekten der Verdichtung, der funktionalen Durchmischung und des energetischen Umbaus in der Bestandsstadt nicht jedes Mal drei bis fünf Jahre auf eine notwendige Umwidmung warten können. Da läuft uns die Zeit davon.“
Johannes Zeininger wiederum sieht „Wiens Lagegunst in Verbindung mit seinem Umland“ seit dem Fall des Eisernen Vorhangs stetig gestiegen. Als ehemalige politische Verwaltungszentrale eines Großreichs an der Donau habe Wien eine an­dere strukturelle Entwicklung genommen als zum Beispiel Zürich oder München – klassische Produktionsstätten wurden kontinuierlich abgebaut. Zeininger merkt kritisch an: „Wien steht mit diesen Stadt­regionen verstärkt im internationalen technologischen Wettbewerb, eine Industrie 4.0 entsteht im Vergleich zu den genannten Städten aber anderswo.“ Hier gegenzusteuern und auch Produktivkraft in der Metro­polregion zu binden sei gesamtheitlich gesehen eine der aktuellen Herausforderungen, um keine städtebauliche Schieflage durch die Konzentration auf die Wohnraumbefriedigung zu erzeugen.

Spannende Entwicklungen
Wollen wir abschließend – kursorisch – zukunftsträchtige Projekte versammeln. Dazu Beiglböck: „Was innovative, nachhaltige Städtebauprojekte betrifft, freue ich mich besonders auf das Leopoldquartier im zweiten Bezirk, das als erstes Stadtquartier Europas zur Gänze in Holzhybridbauweise errichtet und im Betrieb CO2-frei sein wird.“
Schauen wir auch kurz nach Graz: Seit 2014 entsteht in der steirischen Landeshauptstadt mit dem Stadtteilzentrum Puntigam (Bereich Triester Straße/Wagramer Weg) ein großräumiges städtebauliches Projekt. Den geladenen anonymen Architekturwettbewerb für das 4,2 Hektar große Areal, in dem bis zu 1800 Menschen Wohnraum und Arbeit finden sollen, entschied das junge Grazer Team Scherr + Fürnschuss Architekten für sich. Hier soll ein urbaner Nutzungsmix mit drei Vierteln Wohnraum mit insgesamt rund 800 Wohnungen (35 bis 75 m²) sowie einem Viertel Handels-, Dienst­leistungs- und Büroflächen entstehen – umgesetzt etappenweise bis Anfang 2023 (siehe ARCHITEKTURJOURNAL / ­WETTBEWERBE Ausgabe 4/2018 – 339 und 1/2014 – 312). Großes Augenmerk wurde auch auf eine gute Durchwegung und einen Dorfplatzcharakter sowie auf einen Grünbereich mit einer Geländestufe als Kontrapunkt gelegt. Für Autos sind übrigens nur einige überirdische Stellplätze im Bereich der Handelszonen vorgesehen, die restlichen Kraftfahrzeuge verschwinden unterirdisch in Tiefgaragen. Das Konzept sieht insgesamt ein Leben miteinander vor, in welchem man seinen Nachbarn wieder kennenlernt. Gemeinsame sportliche Aktivitäten sowie Carsharing und gratis WLAN für die gesamte Anlage sind zeitgenössische Angebote.

Frischzellenkur für die Bestandsstadt
Für Johannes Zeininger dürfen neue Stadtteile nicht als „Insellösungen“ im Stadt­körper „verkommen“. Aus Sicht des Städtebaus und des Stadt-Weiterbauens werde es interessant zu beobachten, wie weit diese Inseln sich zu voll funktionsfähigen Stadtpartikeln entwickeln werden. Was ist damit gemeint? Zeininger resümiert – und seine Worte dürfen als hohes und hehres Ziel moderner städtebaulicher Entwicklungen gelten: „Entscheidend aus der Sicht der Bestandsstadt ist es, wie weit diese strukturiert geplanten Projekte sich in die Tiefe der Stadt und des Stadtraums einzubetten vermögen. Wie weit es gelingt, mit diesen Interventionen als eine Art Frisch­zellenkur für die Bestandsstadt Fehlbestände im Umfeld auszugleichen und gegenläufig auch Qualitäten der Nachbarschaft mit den Neubaugebieten zu verbinden. Wie das heilvolle Zusammenführen von Geweben in einer Schnittwunde.“
Kurzum: Es geht grosso modo also auch darum, dass Gebautes das Leben, die Gesellschaft generell positiv beeinflusst. 

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