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Was moderne Kulturbauten können müssen

© Manuel Carranza/Centro Niemeyer
Das Oscar-Niemeyer-Kulturzentrum in Avilés gilt als visio­närer Vorreiter moderner Kulturarchitektur.
© Manuel Carranza/Centro Niemeyer

Eines war gestern. Vieles ist heute. Kultur befindet sich in einem ständigen Wandlungsprozess, ein Wesenszug, bei dem auch die Architektur Schritt halten muss.

von: Barbara Jahn

Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis auch in kultureller Hinsicht die Monokulturen zum alten Eisen gehören würden. Nie war es klarer als jetzt, denn die Kunst­szene hat sich selbst in eine multimediale Landschaft verwandelt, wo es in kaum einer Gattung möglich ist, an einer vordefinierten Richtung festzumachen. Die Übergänge der unterschiedlichen Genres sind fließend, die einzelnen Disziplinen wirken zusammen und werden als großes Ganzes wahrgenommen, konsumiert und vor allem genossen. Nichts liegt daher näher, als auch Kulturbauten dieser Pluralität zu unterwerfen und die verschiedensten Kunstströmungen unter einem Dach zu vereinen. Wobei das mit dem Dach nicht wörtlich zu nehmen ist.

In der Vorreiterrolle
Oberste Priorität hat die Flexibilität dieser Architektur, die auf vielfältige Weise bespielbar und benutzbar sein muss. Der Spagat, der dabei zu schaffen ist, ist ein großer, denn die Einladung muss an alle Menschen, egal welchen Alters, Herkunft, Geschlecht, Interesse, Bildungsgrad und physischer Verfassung, adressiert sein. Konzerte, Events, Ausstellungen – all das zieht Menschen an. Nicht umsonst gelten Kulturbauten als wichtige soziale Drehscheibe von Städten, die damit auch eine große gesellschaftliche Verantwortung in sich tragen. Einmal mehr gilt es zu inkludieren, zu begeistern, zu erfreuen und zu bilden – ein Angebot für jeden in der individuellen Dosis. Wie das funktionieren kann, zeigte bereits Architekt Oscar Niemeyer, der 2006 ein Kulturzentrum für die asturische Stadt Avilés entwarf. Auf einer künstlichen Insel rund um einen zentralen Platz gruppieren sich vier Gebäude aus weißem Beton, unterbrochen durch einige akzentuierende farbige Flächen, und – typisch Niemeyer – ganz wenigen rechten Winkeln: eine Konzerthalle, ein Ausstellungsgebäude, ein Aussichtsturm und ein Mehrzweckgebäude mit Konferenzräumen und einem Kinosaal. Das innovative Konzept, die organischen Formen und die offenen Räume der einzelnen Gebäude wecken seit der Fertigstellung erfolgreich das kulturelle Interesse der Stadt, die dadurch einen wirtschaftlichen Impuls bekommen hat.

Zur Filmreife gelangt
Während die einen von Beginn an schon architektonische Klassiker zu sein scheinen, wehren sich die anderen, einfach eine neue Immobilie zu sein. Sie erheben den Anspruch, das Stadtbild neu zu prägen und sich nicht über ihren Standort, ihre vielleicht „gute“ Adresse zu definieren, sondern über die Inhalte, die sie transportieren. Entsprechend frei sollten auch die Architekten sein, diesem Ansinnen Ausdruck zu verleihen, denn die Kunst beginnt im Ansatz schon bei der Architektur. Oft ist es aber nicht nur ein einzelnes Gebäude, sondern ein ganzes Ensemble, das ein neues Stadtgrätzel definiert und damit weitreichende Konsequenzen für das gesamte Quartier und darüber hinaus haben kann. Ein wichtiges urbanes Instrument kommt dabei ins Spiel, das schon die alten Griechen wunderbar einzusetzen wussten: die Agora, ein Ort der Versammlung und des inspirierenden Austauschs mit unterschiedlichstem Hintergrund. Sicher – ein Teil dieser Idee steckt in jedem dieser Projekte, wie zum Beispiel die EuropaCity im Nord­osten von Paris, ein riesiger Freizeitpark, der 2024 eröffnet werden soll. Maßgeblich an der architektonischen Formgebung beteiligt ist unter anderem das niederländische UNStudio, das das Centre Culturel Dédié Au 7è Art entworfen hat. Die drei Baukörper, gewidmet den Genres Blockbuster, Arthouse und New Digital Arts und umhüllt in Cortenstahl, entfalten ihre expressive Form rund um eine Art Forum und geben mit ihren Schrägen spannende Ein- und Ausblicke für die Besucher frei, die sie von den Aufenthaltsflächen, Cafés, Restaurants oder dem Open-Air-Kino genießen können. Neben dem klassischen Kino – selbstverständlich auch indoor – kann man durch große Glasfassaden mitbeobachten, wie neues Material für Film und Fernsehen entsteht und gerät so noch mehr in den Bann der Kunst.

Am Puls sein
Kein Ensemble, dafür benachbart zum Strand und eingegliedert in die Reihe von Wohnbauten an der von Roberto Burle Marx entworfenen Strandpromenade, ist das MIS (Museum of Sound and Music) des New Yorker Architekturbüros Diller, Scofidio + Renfro direkt an der Copaca­bana. Als Siegerprojekt aus einem Wettbewerb hervorgegangen, galt es, zahlreiche Hürden zu bewältigen, etwa den sandigen Baugrund. Die Architekten ließen sich von der Umgebung inspirieren und erweiterten mit dem Museumsbau den Boulevard in vertikaler Richtung. Das MIS ist ein Schmelztiegel von Bildungsangeboten, Ausstellungen und Unterhaltung – Flanieren ist ebenso erwünscht wie das Verweilen und dabei Straße, Strand und Stadt aus ganz neuen Perspektiven zu erleben. Der Umstand, dass fast das gesamte Abbruchmaterial des abgerissenen Vorgängerbaus von 1965 wiederverwendet wurde, trug dem Gebäude eine LEED-Zertifizierung des Green Building Council ein. Im neuen Zuhause für das in den Sechzigerjahren angelegte Archiv von über 30 Privatsammlungen mit Fotografien, Alben, Filmen, Videos, Instrumenten und Interviews werden unter anderem die brasilianische Kultur und die Geschichte des Samba von seinen traditionellen Canção-Wurzeln bis Samba-Jazz, Bossa Nova und modernen Varianten dokumentiert. In der Zwischenzeit ist die Sammlung immens angewachsen und lädt auf eine lebendige Reise durch Vergangenheit und Gegenwart ein. Shop, Café, Panorama-Restaurant, Nachtclub, Auditorium und Open-Air-Kino am Dach runden das Repertoire dem Standort Rio gebührend bunt ab.

In Schwung kommen
Fast schon mehr Landschaft als Gebäude ist das neue Ausstellungszentrum Grognon im belgischen Namur. Exakt dort, wo die Flüsse Maas und Sambre ineinanderfließen, entstand ein auf vielfältige Weise begehbares Bauwerk, das zum einen tiefe Einblicke in die Ursprünge und Innovationen digitaler Technologien, zum anderen einen hohen Erholungsfaktor anbieten kann. Entworfen wurde der Komplex von 3XN als Ort von geschichtsträchtigen städtebaulichen Schnittlinien in sensiblem Umgang mit der umgebenden Landschaft – einmal mehr ein Kulturgebäude, das sich unmittelbar mit der DNA seines Standortes identifiziert. Die Nähe zum Wasser wird durch Treppen zum Teil des Konzepts, das den öffentlichen Teil stark miteinbezieht. Hier sitzt und begegnet man einander, lässt sich treiben und wird selbst zum Protagonisten. Drinnen erwarten die Besucher ein Mehrzwecksaal und ein Restaurant mit offener Küche. Blickbeziehungen werden bei diesem halb­runden, eineinhalbgeschoßigen, in Stahl­lamellen und viel Glas gehüllten Bauwerk ohnehin groß geschrieben. Und diese Offen­heit ist wohl das, was all diese Kulturbauten eint – eine Art von Großzügigkeit, die andernorts oftmals zu kurz kommt.

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