Bjarke Ingels Masterplanet
Angesichts dieser düsteren Ausgangslage hat sich das dänische Architekturbüro BIG zu einem Vorstoß entschieden. 2021 wird ein globaler Masterplan für die gesamte Welt präsentiert, ohne gespielte Bescheidenheit „Masterplanet“ genannt. Wie bei einem Masterplan, der eine Rahmenplanung mit stadtplanerischen Strategien kombiniert und möglichst viele Player einbezieht, stellt der Masterplanet größere Bezüge her. Auch ein Masterplan wirkt anfangs unüberschaubar. „Aber man bekommt eine Menge Feedback und dann adaptiert man, bis alle Kästchen abgehakt werden können“, erklärt Bjarke Ingels, Gründer von BIG, in einem Interview mit dem Time Magazine. „Auch wenn es am Anfang so komplex und umfangreich erscheint, kommt man schließlich zum Ziel.“ Der große Maßstab macht Sinn, wenn Ergebnisse schnell und dezentral erzielt werden sollen. „Wenn man ein Haus baut, gibt es ein paar Dinge, die man tun kann – einige Sonnenkollektoren auf dem Dach anbringen und so weiter –, aber das meiste davon ist nicht sehr effektiv“, erklärt Ingels. Think big heißt in dem Fall also, den Maßstab zu vergrößern, nicht nur in Dimensionen von Einzelprojekten. „Jedes Mal, wenn man den Maßstab vergrößert, kann man tatsächlich mehr tun.“
Kritik seitens Kollegen sieht Ingels gelassen entgegen. Wenn man gemeinsam arbeiten möchte, ist sie sogar unerlässlich: „Der Plan wird nur dann eine Wirkung haben, wenn genügend relevante Instanzen ihn für nützlich halten und dazu beitragen und mitarbeiten und Kritik üben wollen.“ Der Masterplanet teilt die Agenda in zehn Abschnitte. Fünf betreffen Bereiche, in denen Treibhausgase entstehen – Verkehr, Energie, Nahrungsmittel, Industrie und Abfallmanagement. Fünf weitere Bereiche beziehen sich auf biologische Vielfalt, Wasser, Umweltverschmutzung, Gesundheit und – Architektur und Städtebau. Wie ein üblicher Masterplan enthält er ausgearbeitete Budgets, Bereichstabellen, Systemlayouts und Phasenstrategien. Ein wesentliches Etappenziel ist die Vereinheitlichung globaler Stromnetze und die Sicherstellung von Energieproduktion aus erneuerbaren Quellen. Auch die Erfahrungen aktueller Projekte werden einbezogen, etwa die Entwicklung einer schwimmenden Stadt als Lösung für Communitys, die vom steigenden Meeresspiegel betroffen sind. BIG entwickelt gerade mit BiodiverCity drei künstliche Inseln in Malaysia, allerdings zu touristischer Verwendung.
Zermahlenes Steinmehl
Der erste ausführliche Entwurf von „Masterplanet“ wird 2021 veröffentlicht und soll „beweisen, dass eine nachhaltige menschliche Präsenz auf dem Planeten Erde mit den vorhandenen Technologien erreichbar ist“, bevor die totale Katastrophe eintritt. Ein Detail des Plans gibt Ingels jetzt schon preis: Nach neuesten geologischen Erkenntnissen war von Gletschern zermahlenes Steinmehl für besonders nährstoffreiche Böden verantwortlich. Man könnte also, so die Idee, mit jedem Containerschiff ein paar Behälter mit diesem reichhaltigen Steinmehl anfüllen und die Substanz auf der Fahrt im Meer verteilen. Wenn dann vom Meeresboden Pflanzen hinaufwachsen, binden sie CO2 aus der Atmosphäre und reduzieren den Treibhauseffekt. Diese Maßnahme könnte die CO2-bindenden Effekte der Meere steigern. „Wir können unsere menschliche Power, die einen massiven Einfluss auf die Umgebung hat, entweder dazu verwenden, einen Albtraum zu erschaffen oder um unsere Träume zu verwirklichen“, so die Vision von Bjarke Ingels.
Visionär oder Scharlatan?
Das angekündigte Projekt Masterplanet entzweit das Publikum. Bjarke Ingels wird einerseits vergöttert und als Visionär gefeiert, andererseits als Scharlatan und Egozentriker kritisiert. Wie es scheint, gibt es bei BIG keinerlei Berührungsängste, was Themen betrifft. Eine Skipiste auf einem Heizkraftwerk in Kopenhagen, eine Himmelstreppe in New York, ein Apartmentblock in Form eines Berges, Sphären für Mondreisen, Google-Dome. Sci-Fi-geschult, mit Lego aufgewachsen und mit einer anhaltenden Vorliebe für Graphic Novels, plant Ingels seine Projekte mit futuristischem Touch. „Wir haben die Erwartung der Menschen, was möglich ist, verändert“, stellt Ingels fest. Für ein Marsprojekt wurden Prototypen von Sphären in der Wüste entwickelt. Diese muss man nur noch auf den Mars exportieren. Es gibt durchkalkulierte Entwicklungsphasen, die die Besiedlung begleiten. Ist das die Lösung, wenn Masterplanet doch nicht funktioniert? In vielen Projekten hat das Architekturbüro BIG auf Partizipation gesetzt. Vieles wird erst durch Einbeziehen unterschiedlicher Disziplinen und Backgrounds möglich. Ein großer Park, Superkilen in Kopenhagen, gestaltet unter Einbeziehung der internationalen Bewohner des Viertels. Sie sammelten Objekte wie Sportgeräte vom Strand in Los Angeles, Palmen aus China, Neonschilder aus Katar. Es gibt einen roten Platz mit Originalschild aus Moskau. Jedes Objekt wird von einer Erklärung in der jeweiligen Landessprache und auf Dänisch begleitet – eine Hommage an die integrative Kraft der Stadt und ihre vielfältigen Lebensweisen, die nur durch tatsächliche Partizipation in dieser Weise sichtbar werden können.
Alternative: Bottom-up
Die Einbindung aller Akteure und kompromisslose Partizipation fordern viele Architektinnen und Architekten schon lange, etwa die frühere pakistanische Stararchitektin Yasmeen Lari. Seit 2010 hat sie, gemeinsam mit Menschen vor Ort, über 36.000 Häuser in Gebieten gebaut, die von den Überschwemmungen und Erdbeben in Pakistan betroffen waren. „Für ein gemeinschaftliches Engagement ist das Bewusstsein wichtig, dass man als individueller Akteur gefragt ist.“ Yasmeen Lari geht es um Empowerment von lange ausgegrenzten Bevölkerungsschichten, deren Motivation für einen dauerhaften Wandel unabdingbar ist. Wesentlich sind nicht nur Strukturen, sondern auch das Sichtbarmachen eigener Traditionen und eigener Gefühle.Top-Down-Weltrettung kann ihrer Ansicht nach nichts bringen. Nur wer überzeugt ist, engagiert sich. „Menschen brauchen Gelegenheit, ihren eigenen Stolz zu zeigen.“ Auch die vielfach preisgekrönten Projekte der deutschen Architektin Anna Heringer binden Menschen vor Ort in Entscheidungs- und Bauprozesse ein. Wie das kürzlich eröffnete Anandaloy-Zentrum in Bangladesch, ein Community Center, für das sie den Obel Award 2020 erhalten hat – einen neuen, internationalen Architekturpreis, der aktuelle und herausragende architektonische Beiträge zur menschlichen Entwicklung auf der ganzen Welt würdigt und Architekten weltweit einen Anreiz bietet, Verpflichtungen gegenüber dem Gemeinwohl zu berücksichtigen. Heringers Schaffensprozesse entstehen durch das Zusammenfügen von Wissen aus unterschiedlichen Quellen, das der lokalen Communitys und das der Architektin. Sie teilt ihre Kenntnisse und lässt sich ihrerseits von ihren Teampartnern vor Ort unterrichten. So entsteht ein wechselseitiger Know-how-Transfer.
Anna Heringer beschreibt die Entwicklung des Projekts: von der Anfangsphase, in der die Haltung der Community eher passiv war, zur Einbindung und Auseinandersetzung mit den einzelnen Ideen und Standpunkten bis zur tatsächlichen, aktiven Umsetzung. „Man konzentriert sich mehr auf Interaktion und bedeutungsvolle Beziehungen, weniger auf Zeitvertreib“, sagt die Architektin in einem Interview. „Gut aussehende Architektur reicht nicht“ – kann aber Teil eines neuen, umweltverträglichen Architektur-Verständnisses sein.
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