350 Naturstein

In Würde altern

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Piazza Navona in Rom, mit Berninis Vierströmebrunnen. Das Pflaster besteht aus Granit und Travertin.
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Piazza delle Erbe, Verona,  mit großformatigen Platten  aus Veroneser Marmor © CC 4.0
Piazza delle Erbe, Verona, mit großformatigen Platten aus Veroneser Marmor © CC 4.0

Die Natursteinbeläge auf Europas Straßen und Plätzen erzählen Geschichte. Generationen von Menschen haben Gebrauchsspuren hinterlassen. Genau diese Patina macht deren Charme aus.

von: Roland Kanfer

Wo, wenn nicht in der ewigen Stadt, beginnt unsere Erzählung über das Material, das wie kein anderes die Ewigkeit symbolisiert: Rom und Naturstein – das gehört zusammen. Dem spätantiken römischen Geschichtsschreiber Marcellinus zufolge wird Rom so lange bestehen wie Menschen leben. Das garantiere der Bund ewigen Friedens, den die beiden Tugenden Kraft und Glück bei der Gründung der Stadt geschlossen hätten. 

Dasselbe lässt sich über Naturstein sagen. Das Urmaterial der Erde, vor Jahrmillionen entstanden, wird seit Tausenden von Jahren für Bauwerke und Straßen verwendet, von denen wir heute noch viele bestaunen können, während Bauten aus Holz oder Lehm meist nur mehr in Erzählungen weiterleben. Stein erzählt also Geschichte. Urgeschichte, Geschichte der Antike, aber auch die Geschichte der letzten Jahrhunderte bleibt durch ihn lebendig. Europa ist voll von Profan- und Sakralbauten aus Stein, aber auch von Straßen, Höfen und Plätzen, über die Dutzende Generationen von Menschen gegangen sind. Und die noch von weiteren Generationen genutzt werden. 

 

Patina der Piazza Navona

Dass sich der Stein dabei verändert, liegt auf der Hand. Auch auf dem härtesten Granit hinterlässt die Geschichte der Menschheit ihre Spuren. Es sind gerade diese Spuren, es ist die Patina, die uns heute an mittelalterlichen Gassen, an Renaissance- und Barockplätzen mit ihren Brunnen so faszinieren und die wir lieben. Wie etwa, um in Rom zu bleiben, die Piazza Navona. Sein heutiges Aussehen bekam der Platz im 17. Jahrhundert durch den Schweizer Architekten und Steinmetz Francesco Borromini, der auch den Pa­lazzo Pamphilj an der Piazza Navona baute. Für die Besitzerin Olimpia Maidalchini, die Schwägerin von Papst Innozenz  X., schuf der italienische Architekt und Bildhauer Gian Lorenzo Bernini den berühmten Vierströmebrunnen. Vier aus Travertin gehauene Figuren symbolisieren die größten Ströme der damals bekannten vier Kontinente (Donau, Nil, Ganges und Río de la Plata). Sie lagern zu Füßen eines Obelisken. 

Der rechteckige Platz mit seinen abgerundeten Ecken hat eine lange Geschichte: In der Antike stand dort ein von Kaiser Domitian errichtetes Stadion. Im Mittelalter wurden nach und nach Häuser auf den Funda­menten und unter Einbeziehung bestehender Außenwände des Stadionbaus eingebaut. Das Stadion verschwand, übrig blieben die Häuser, die der Piazza ihre eigen­willige Form gaben. Der Bodenbelag, Granit-Pflastersteine, unterbrochen von Bordüren aus Travertin, hat seine Ebenmäßigkeit längst verloren. Und das ist es, was den Charme dieser Piazza doch ausmacht. 

 

Veroneser Plätze aus Marmor

Während der Travertin, ein poröser Kalkstein, der aussieht wie Marmor und meist gelblich oder braun, seltener beige oder hellrot ist, im Gebiet rund um Rom und in der Toskana häufig verwendet wird, ist es weiter nördlich der Veroneser Marmor. Dieser Kalkstein wird seit mehr als 2000 Jahren in den unterschiedlichsten Strukturen und Farben, von Rotbraun über Gelb bis Gelbgrün, in Steinbrüchen im Valpolicella, nordwestlich von Verona, abgebaut und als Bau- und Dekorationsstein verwendet. Bekanntestes Beispiel für den Veroneser Marmor als Baumaterial ist die Arena di Verona. Als Bodenbelag findet sich in vielen Straßen der Altstadt von Verona der „Pfirsichblütenmarmor“, wie ihn der Kunsthistoriker John Ruskin im 19. Jahrhundert bezeichnete. Prominent vertreten sind diese Bodenplatten vor allem auf der Piazza delle Erbe, einem 150 Meter langen, zwischen 50 und 25 Meter breiten Platz, dessen unregelmäßige, fließen­de, offene Form sich aus dem antiken römischen Forum entwickelte. 

Der Platz ist mit großformatigen Marmor­platten in Rot und Grau gedeckt. Der Veroneser Marmor ist sehr witterungsbeständig, verliert allerdings im Lauf der Zeit seinen roten Farbton. Bauwerke wurden aus diesem Grund in der Renaissance oft übermalt. Bei den Bodenbelägen wäre das sinnlos. Und sie würden ihre Patina und damit den typischen Charme verlieren, der diese Plätze ausmacht. 

Ganz anders gestaltet ist hingegen die durch einen Häuserblock von der Piazza delle Erbe getrennte Piazza dei Signori. Sie ist als rechteckiger, geschlossener Innenhof angelegt. Auch die Fassaden der den Platz definierenden Palazzi Cansignorio und del Comune, der Domus Nova und der Casa della Pietà zeichnen sich durch strenge Geometrie aus. Belegt ist der Platz mit dunklen, anthrazitfarbenen Basaltplatten, an denen auch der Zahn der Zeit genagt hat. Auch hier wächst Gras aus manchen Fugen, Kanten sind nicht mehr ganz plan mit den Nachbarsteinen, die Platten, mit denen auch die Fahrbahnen der Veroneser Altstadt gepflastert sind, weisen unterschiedliche Grade der Verwitterung auf. 

Geschichte ausradieren?

Selbstverständlich könnten diese und andere Natursteinplatten auf den alten Straßen und Plätzen wie alle jahrhundertealten Bodenbeläge abgeschliffen und gereinigt werden und damit wieder ein neues Erscheinungsbild erhalten. Die Frage ist, ob wir das wollen. Ob wir die Patina von Jahrhunderten, die Gebrauchsspuren, die Generationen hinterlassen haben, tilgen wollen. Gerade Europa lebt von seiner Geschichte, von seinen Katastrophen und seinen Errungenschaften. Es wäre ein Verlust für die Menschheit, diese Geschichte auszuradieren.

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