Gründerzeithäuser: vergessen und verfallen
Matthias Haber, Partner bei Hild und K Architekten in München und Berlin, machte sich in einem „Standard“-Artikel von Wojciech Czaja unter dem Titel „Abbrüche von Gründerzeithäusern: Wiener Identität droht zu verschwinden“ Luft: „Abbrüche und Neubauten, die einzig und allein ökonomisch motiviert sind und alle anderen Aspekte ignorieren, sind aus baukultureller und ökologischer Sicht abzulehnen. Diese Abrisse müssen gestoppt werden.“ Egal ob sein Architekturbüro neu baue oder saniere, so Hild: Die eigene Arbeit werde stets als Bauen im Bestand verstanden, „denn im städtischen Kontext ist man immer von Bestand umgeben“.
Angelika Psenner, Professorin für Stadtstrukturforschung an der TU Wien, weist in diesem Zusammenhang auf den Aspekt der Erdgeschoßgestaltung hin: Die meisten Neubauten bestehen im Erdgeschoß heute aus Haustor, Garageneinfahrt und Zugang zum Müllraum. Damit sei das Erdgeschoß vielerorts „monoton und unbelebt“. Die wenigen Erdgeschoßlokale, die man finde, stehen entweder leer oder werden als gewerbliche Storage-Räume genutzt. Haben sich in den 1990er-Jahren noch Kreative – etwa Architekten – im Erdgeschoß eingemietet, finde man heute dort immer häufiger Arztpraxen. Kurzum: Das Erdgeschoß sei eine Raumressource für künftige Nutzungen, „die wir uns heute vielleicht nicht einmal noch vorstellen können“, so Psenner, die bekräftigt: „2,50 Meter Raumhöhe im Erdgeschoß ist ein No-Go!“
Erörterungsbedürftiger Facettenreichtum
Wie betreibe ich etwa auch ein Zinshaus nachhaltig? Wolfgang und Renate Achtsnit, die nun tatsächlich – mit ihrem gleichnamigen Architektenbüro – Erfahrung mit der Sanierung von historischen Juwelen haben (beispielsweise mit den Generalsanierungen des Palmenhauses in Wien, eines denkmalgeschützten Wohnbaus in Baden, eines ehemaligen Klosters in 1140 Wien), weisen im Gespräch mit diesem Magazin darauf hin, dass man sich durchaus – von Fall zu Fall – ansehen müsse, wie ein Gebäude im Ensemble wirkt. Klar sei: Die historische Substanz sei „so weit wie möglich“ zu erhalten. In puncto Nachhaltigkeitsgedanken habe das Architekten-Ehepaar aber von Zinshausbesitzern schon erfahren, dass diese zwar investieren wollten – in eine Photovoltaikanlage am Dach etwa oder auch in eine innovative Heizmethode –, dass aber diese Vorhaben oft nicht allein aus (verständlichen) denkmalschützerischen Gründen unmöglich waren, sondern oft auch an technischen Problemen scheiterten. Kurzum: Dem Thema Alt- vs. Neubau beziehungsweise Sanierung vs. Abriss müsse man schon, so Wolfgang und Renate Achtsnit, einen erörterungsbedürftigen Facettenreichtum zugestehen.
Nachhaltigkeit ist rentabel
Um den ESG (Environment, Social, Governance)-Anforderungen in der Immobilienbranche gerecht zu werden, sind Gebäudedaten essenziell. Bei Neubauten sieht Michael Jelencsits, Leiter der Engineering-Beratung bei Drees & Sommer Österreich, eine gute Ausgangslage, bei Bestandsgebäuden gelte es, „die derzeit günstigen Voraussetzungen“ zu nutzen. Bis 2050 sollen in der EU die Netto-Emissionen der Treibhausgase auf null sinken, so sieht es der European Green Deal vor. Die ESG-Anforderungen sind ein wichtiger Baustein dazu. Für den Immobiliensektor, auf den aktuell rund 40 Prozent des EU-weiten Energieverbrauchs entfallen, bedeutet das Handlungsbedarf. Bei Neubauten blickt man in der Branche zuversichtlich in die Zukunft, da durch Building Information Modeling (BIM) und die Verwendung digitaler Plattformen zur Dokumentation von Gebäudedaten entsprechende Informationen von Beginn an vorliegen. Bei Bestandsgebäuden gelte es, diese Daten nun im Nachhinein zu erheben. „Das gestiegene ökologische Bewusstsein generell sowie die aktuellen Energiepreisentwicklungen tragen dazu bei, dass bei Eigentümern und Nutzern das Interesse an diesen Daten steigt“, stellt Jelencsits fest.
Um den ökologischen Fußabdruck von Bestandsgebäuden zu reduzieren, werden zuerst mit einem Energiemonitoring Energieverbrauch und CO2-Emissionen gemessen. Technisch ist das zum Beispiel mit Sensoren und Smart-Building-Komponenten zu lösen. Die erhobenen Daten müssen dann allen, die an der Umsetzung der ESG-Anforderungen arbeiten, zugänglich sein. Die ausgewogene Balance zwischen Datenschutz und Datennutzung sowie die Themen Denkmalschutz und Baurecht seien zwar noch Bereiche, die an ESG „angepasst“ werden müssten. Doch für Jelencsits ist klar: „Nicht nur sind die ESG-Bestimmungen unumgänglich, Nachhaltigkeit rentiert sich auch finanziell. Die Einsparungskosten etwa im Bereich Energie überschreiten die Sanierungskosten mittelfristig deutlich.“ Vonseiten der Architects for Future heißt es bemerkenswerterweise dazu: „Nicht nur werden wertvolle und schwindende Ressourcen bei einem Abriss und Neubau verschwendet, sondern auch bedeutend mehr Energie. Bei der Betrachtung der Energiebilanz des gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes fällt auf, dass durch die Bewertung von grauer Energie eine Sanierung jedem Neubau, selbst dem von Passivhäusern, vorzuziehen ist.“
BIM auch im Altbau
Matthias Ortner vom auf die Immobilienbranche spezialisierten Beratungsunternehmen Advicum sieht die Diskussion differenziert: Aus ökonomischer Sicht sei es für den Eigentümer zweifelsohne angeraten, einen Altbau abzureißen, man falle dann nicht mehr unters Mietrechtsgesetz (MRG). Außerdem spricht er amüsiert die Thematik „Hinterholz 8“ an: Im Grunde wissen Eigentümer oft nicht: „Welche – historisch gewachsenen – Baumängel stecken in ihrem Haus?“ Andererseits, und hier spricht Ortner die emotionale Seite des Problems an: „Fragen Sie die Touristiker: Wien lebt von seinem Stadtbild.“ Aus makroökonomischer Sicht wäre Wien gut beraten, genau zu überlegen, wo abgerissen werden dürfe und wo nicht. Überdies empfiehlt er, vor allem auch Altbauten mit einem BIM-Monitoring auszustatten: „Eigentlich müsste man meinen, dass dies schon Branchenstandard wäre.“ In weiterer Folge ließen sich ganze Hauszeilen, ja Stadtteile energetisch mit Realdaten einmessen. Insgesamt empfehlen sich auch Fördermaßnahmen für Smart Metering, so Ortner.
Abschließend sei auf den Architekten Markus Swittalek verwiesen, der in seinem Buch „Das Gründerzeithaus“ schreibt: „Die umsichtige Planung, die gute Bauqualität und die Verwendung nachhaltiger Baustoffe ermöglichten eine hohe Nutzungsflexibilität und machen die Gründerzeithäuser außerdem nachhaltig.“
Der Artikel als PDF