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Wohnen nach Corona

© Gisela Erlacher
In der Slim City in der Seestadt Aspern gibt es ebenerdig angesiedelte Maisonettewohnungen mit jeweils eigenen Innentreppen.
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Die Covid-19-Pandemie kann Wohnbau, Architektur und Städteplanung nachhaltig verändern, sind Expertinnen und Experten überzeugt – sofern wir dies zulassen.

von: Silke Ruprechtsberger, egger-lerch.at

Die Corona-Pandemie ließ unser Zuhause in einem neuen Licht erscheinen. Die Wohnung wurde zum permanenten Aufenthaltsort, war plötzlich Wohnraum, Homeoffice und Unterrichtsort zugleich. In Familien galt es, unterschiedlichste Bedürfnisse auszuverhandeln. Und schon während des Lockdowns spürten wir, was nun auch Studien zeigen: Wer ein Haus am Land oder zumindest Garten oder Balkon hat, überstand die Krise besser als andere.
„In den letzten zehn Jahren haben 96 Prozent der geförderten Wohnungen in Wien private Außenräume. Corona hat gezeigt, dass dieser Weg richtig ist“, fühlt sich Michael Pech, Generaldirektor des Österreichischen Siedlungswerkes (ÖSW), bestätigt. Insgesamt habe sich der Fokus der Menschen verschoben: „Viele legen nun mehr Wert auf eine hohe Wohnqualität als auf ein teures Auto oder einen Malediven-­Urlaub.“ Auch der Wunsch nach Eigentum habe sich verstärkt: „Ob es die finanzielle Lage auch erlaubt, ist eine andere Frage“, so Pech.

Wohnraum neu denken
Die Wiener Architektin Anna Popelka plädiert dafür, die Gestaltung von Wohnungen zu überdenken: „Wir bauen Wohnungen wie vor hundert Jahren, aber wir leben längst nicht mehr so. Viele Wohnungen sind von ihrem Aufbau her so limitiert, dass sie keinen Raum für Unvorhergesehenes bieten: Ein Kind ist unterwegs oder ich brauche einen Arbeitsplatz daheim.“
Auch im engen Kostenkorsett des gemeinnützigen Wohnbaus ließen sich die Einheiten viel flexibler gestalten, ist sie überzeugt. Um auf die individuellen Bedürfnisse eingehen zu können, setzt Popelka auf „umgekehrte Partizipation“: möglichst viele, ganz unterschiedliche Wohnangebote. So gibt es in der Slim City, die Popelka mit der EGW Heimstätte in der Wiener Seestadt umgesetzt hat, mehrere Maisonettewohnungen, zwei davon mit Riesenkellern. „Diese integrierten Turmhäuschen werden von einigen sehr geliebt“, meint Popelka. In den übrigen Einheiten kann man aus unterschiedlichen Zimmeraufteilungen wählen. Die bauliche Dichte ist gewollt – sie soll mit ihren verbindenden Wegen und Gängen für ein kommunikatives „Gründerzeit-Flair“ im Neubau sorgen.

„Möglichkeitsräume“ schaffen
In der Stadt selbst sei durch die häusliche Enge während der Coronakrise auch der Druck auf den öffentlichen Raum gestiegen, glaubt Markus Kaplan von BWM Architekten. „Corona hat den Blick auf die soziale Schieflage gelenkt zwischen denen, die entspannt auf der Dachterrasse arbeiten, und jenen, die nicht digitalisiert mit zu großen Familien in zu kleinen Räumen leben.“ Kaplan fordert, wir sollten „die Demokratie in den öffentlichen Raum zurückholen“. So bräuchte es auch abseits der Wohnanlagen mehr niederschwellige „Möglichkeitsräume, die Gemeinschaft schaffen“. Dafür müssten die Menschen im Grätzl mithilfe partizipativer Prozesse eingebunden werden.
Darüber hinaus plädiert der Architekt für mehr Begegnungszonen: „In jedem Wiener Bezirk muss es sichere Flächen geben, die Fußgänger gleichberechtigt mit dem motorisierten Verkehr nutzen können. Das ist relativ einfach zu bewerkstelligen, indem man die Gehsteige abschafft und Tempolimits einzieht.“ Grundsätzlich habe die Wiener Stadtpolitik, etwa mit den „coolen Straßen“ – temporäre Wohnstraßenbereiche mit Brunnen und Sprühnebelanlagen –, bereits reagiert, so Kaplan. ÖSW-Chef Pech glaubt, dass neue innerstädtische Grün­bereiche auch aus klimaschutztechnischen Gründen notwendig sind: „Zudem haben viele Städter in der Krise das Land entdeckt. Sie flüchten verstärkt ins Grüne, was auch das Verkehrsaufkommen erhöht.“ Um dem entgegenzuwirken, sind laut Pech die Städte gefordert, durch entsprechende Flächen­widmungs- und Bebauungspläne für qualitätsvolle Freiräume zu sorgen.

Elastische Wohnungen
„Unser Leben ist eine komplexe Angelegenheit, aber das bilden die Wohnungen nicht ab“, sagt Anna Popelka. Gemeinsam mit ihrem Partner Georg Poduschka hat die Wiener Architektin deshalb die „elastische Wohnung“ entworfen: Kleine Zimmer gruppieren sich rund um einen zentralen, großen, dreiseitig belichteten Wohnraum.
Außer Küche, Bad und Abstellraum können alle Räume flexibel genutzt werden. Je nach Wunsch dienen sie als Schlaf- oder Gästezimmer, Büro, Kreativraum oder Lesezone. Vorhänge, Schiebetüren und Glaselemente werden hier zu Wänden.
Das Konzept ist auf jede Größe anwendbar. Umge­setzt wurde der Entwurf bislang allerdings nicht: Der Berliner Auftraggeber bekam im letzten Augenblick kalte Füße.

Wohnungsnot in Europas Städten
Der wachsende Einfluss internationaler Kapitalanleger und schrumpfende staatliche Investitionen in den sozialen Wohnbau verschärfen die Lage am europäischen Wohnungsmarkt. Das geht aus dem aktuellen Lagebericht des Dachverbands Housing Europe hervor. Besonders prekär ist die Situation in Metropolen wie Paris, Amsterdam und Barcelona. Gerlinde Gutheil-Knopp-Kirchwald vom wohnwirtschaftlichen Referat des GBV (Verband gemeinnütziger Bauvereinigungen): „Großstädtische Wohnungsmärkte geraten mehr und mehr in den Einfluss internationaler Finanzinvestoren. Die Preise orientieren sich weniger an regionalen Faktoren als an den Renditeerwartungen auf internationalen Anlagemärkten. Das treibt Kaufpreise und Mieten nach oben.“ Weil Spekulanten mehr Geld mit der Wertsteigerung als mit Mieterträgen verdienen, stehen immer mehr Wohnungen leer. In Paris sollen es schon sieben Prozent sein, mehr als ein Drittel davon sogar ohne Stromanschluss. „Die touristische Kurzzeitvermietung setzt den Wohnungsmarkt zusätzlich unter Druck“, so die Expertin.

Problematische Investitionslücke
Insgesamt steckt das Wohnen in Europa weiter in der Krise. Jeder zehnte Haushalt in der EU muss über 40 Prozent des Einkommens fürs Wohnen ausgeben – und ist damit über Gebühr belastet. Berücksichtigt man die Wohnkosten, sind 156 Millionen Menschen in Europa armutsgefährdet. Mitverantwortlich für den Mangel an leistbaren Angeboten ist, dass die EU-Länder immer weniger Geld in den sozialen Wohnbau stecken. Die öffentlichen Investitionen sanken von 49 Milliarden (2009) auf 26 Milliarden Euro (2017). „Nun bekommen viele Länder und Regionen die Rechnung präsentiert. Sie ersparen sich dabei nicht einmal etwas, denn sie zahlen im Gegenzug mehr direkte Mietbeihilfen“, sagt Gutheil-Knopp-Kirchwald. Mit unterschiedlichen Maßnahmen versuchen Europas Städte, der Wohnungsnot Herr zu werden. Sie beschränken die Airbnb-Vermietungen, koppeln, etwa in Wien und Barcelona, die Baulandwidmung an Quoten für den geförderten Wohnbau, verschärfen die Mietpreisregelung, reagieren mit Investitionsprogrammen für den sozialen Wohnbau oder mit Initiativen gegen Wohnungslosigkeit (z. B. Helsinki, Brüssel).
Österreich steht vergleichsweise gut da: Obwohl unterdurchschnittlich viel Steuergeld ins Wohnungswesen fließt, gibt es dank gemeinnützigem Wohnbau und Objektförderung überdurchschnittlich viele soziale Wohnungen. Die GBV-Mieten liegen bis zu 30 Prozent unter den Markt­mieten. 

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